Offener Brief an Brotbotschafter Lars Klingbeil (SPD-Chef)

Lars Klingbeil, einer der beiden SPD-Vorsitzenden, ist vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks zum neuen Brotbotschafter ernannt worden (Quelle 1, Quelle 2). Zuvor war das u.a. schon Cem Özdemir, der heutige Landwirtschaftsminister. Einige Aussagen von Verbandspräsident Wippler und auch von Klingbeil während der Festveranstaltung bzw. in den Presseberichten haben wir zum Anlass genommen, Lars Klingbeil einen Brief zu schreiben. Nachdem wir nun seit drei Wochen keinerlei Rückmeldung erhalten haben, ist die Zeit gekommen, unseren Brief öffentlich zu machen, damit sich auch alle anderen Menschen, denen das Brot am Herzen liegt, eine Meinung bilden und ggf. Lars Klingbeil in seiner Funktion als Brotbotschafter ihre Fragen und Anregungen schicken können.

 


Hamburg, 10.05.2023 
Botschafter für eine neue Brotkultur 

Sehr geehrter Herr Klingbeil,

lange schon verfolgen wir Ihre Arbeit als SPD-Politiker mit besonderem Interesse, weil uns Ihre Art, die Welt zu betrachten und Probleme zu lösen, recht pragmatisch und auch sympathisch erscheint.

Kurz zu uns: Wir sind Christina Weiß, erfolgreiche Bäckermeisterin aus Hamburg, und Lutz Geißler, ein unter Laien wie Profis weit bekannter Brotexperte aus dem Erzgebirge, heute in Hamburg lebend und mit Frau Weiß eine kleine Stadtteilbäckerei betreibend.

Wir haben in den Medien lesen dürfen, dass Sie vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks zum Brotbotschafter 2023 gekürt wurden. Dazu möchten wir Ihnen zunächst gratulieren. Wir schreiben Ihnen, weil wir darauf hoffen, dass Sie dem Bäckerhandwerk nicht nur als Werbefigur dienen, sondern auch die Probleme ansprechen, die sich insbesondere in der Ausbildung seit Jahren aufstauen.


Verbandspräsident Wippler wurde in den Medien mit diesen Worten zitiert: „Mit Lars Klingbeil ist das Amt des Brotbotschafters 2023 ideal besetzt. Er ist jung, ambitioniert und leidenschaftlich und verkörpert damit Eigenschaften, die auch auf die Deutschen Innungsbäcker zutreffen.“ Wenn Sie sich den Altersdurchschnitt der Bäcker ansehen, zeigt sich ein anderes, altes Bild. Nachwuchs kommt kaum noch nach. Und dem „Nachwuchs“, der gern nachkommen will, werden seitens der Handwerkskammern Steine in den Weg gelegt, denn gelehrt wird mitnichten so, wie es die Verbraucher eigentlich von einem Handwerksprodukt erwarten. Das Deutsche Bäckerhandwerk ist seit Jahrzehnten durchsetzt von industriellen Vor- und Fertigprodukten. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage aus diesem Frühjahr, die wir in Auftrag gegeben haben, verstehen sich 100 % der befragten Betriebe über alle Betriebsgrößen hinweg als Handwerksbäckereien. Trotzdem verwendet über die Hälfte der Betriebe mit Zusatz- und Verarbeitungshilfsstoffen (Emulgatoren, technische Enzyme, Ascorbinsäure etc.) versetzte Mehle, 49 % der Betriebe setzen Backmischungen ein, 42 % kaufen Teiglinge zu und 10 % sogar industrielle Fertigbackwaren. Rund 80 % dieser Betriebe verschweigen ihrer Kundschaft den Zukauf industrieller Ware, geben sie also als handwerklich hergestellt aus.


Christina Weiß hat mit 42 Jahren die reguläre Bäckerausbildung begonnen und fachlich unhaltbare Zustände an ihrer Berufs- und Meisterschule erlebt. Die Arbeit mit industriellen Vorprodukten war an der Tagesordnung (Fertig-/Reinzuchtsauerteige, Zusatz- und Verarbeitungshilfsstoffe etc.). Von Handwerk im eigentlichen Sinne, also der Arbeit mit einem Naturrohstoff, konnte keine Rede sein. Lutz Geißler ist gut vernetzt in der Quereinsteiger- und Profibäckerszene und alle beklagen diese Zustände in Berufs- und Meisterschulen. Letztlich hängt es an den Prüfungsordnungen der Handwerkskammern, die wiederum auch von den Innungen mitgeschrieben und abgeprüft werden, also letztlich auch vom Zentralverband, der Sie zum Brotbotschafter ernannt hat.


Wir bilden in Schleswig-Holstein inzwischen interessierte Berufsschullehrer in handwerklicher Sauerteigführung und „sauberer“ Handwerksbäckerei weiter und versuchen so, unseren Teil zu einem Umdenken im Bäckerhandwerk beizutragen. Der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks neigt dazu, sich nach außen mit den Rosinen zu schmücken (die oft gar nicht Innungsmitglied sind) und ein sauberes Bild vom Bäckerhandwerk zu vermitteln, aber nach innen ändert sich nichts. Die Devise lautet „Das haben wir schon immer so gemacht!“. Was das Ergebnis dieser Strategie ist, zeigt sich in den obigen Zahlen und in den Betriebsschließungen. 2022 wurden jeden Tag mehr als zwei Öfen abgeschaltet. Mehr als 700 Bäckereien schlossen für immer ihre Türen. Die Ausbildungszahlen sanken drastisch. Kein Wunder, denn nach einer Ausbildung im deutschen Bäckerhandwerk ist man zwar in der Lage, ein schnelles und ästhetisches Brot zu backen, aber schmecken muss es nicht. In der Gesellen- wie in der Meisterprüfung wird nach identischem Aussehen, nach übernatürlichem Gebäckvolumen und Schnelligkeit bewertet. Kein Prüfer schneidet das Brot oder Brötchen an und bewertet die geruchliche und geschmackliche Qualität des Gebäcks, obwohl gerade das an erster Stelle stehen sollte. Nur dadurch kann sich das Handwerk von der Industrie absetzen.


Sie werden in der Pressemitteilung des Verbands mit folgenden Worten zitiert: „Die deutsche Brot- und Brötchenkultur ist einmalig, deshalb ist es mir eine Ehre, dieses Amt zu übernehmen.“ Ja, die deutsche Brot- und Brötchenkultur war einmalig und verschwimmt immer mehr im industriellen Einerlei. Die Vielfalt ist nur noch eine Attrappe, hinter der viel Luft und wenig Geschmack ist.


Wir sind im Frühjahr 2022 drei Wochen durch Deutschland gereist und haben das Sortiment von mehr als 70 Bäckereien im gesamten Bundesgebiet getestet. Fünf dieser Bäckereien haben Brote angeboten, die auch ohne Belag herausragend geschmeckt haben. Alle anderen schmeckten im besten Fall neutral, ganz oft aber pappig, muffig und schlimmeres. Ist das die Brotkultur, die Sie erhalten möchten?


Wir wünschen uns endlich einmal einen Brotbotschafter, der das Brot selbst und nicht den Zentralverband ins Rampenlicht rückt. Einen Brotbotschafter, der Wert auf Geschmack legt und das kleine Handwerk in den Fokus nimmt, dessen Sorgen und Nöte anspricht. Und einen Brotbotschafter, der den Innungen und Handwerkskammern auf die Finger klopft, um die völlig veralteten Strukturen und Lehrinhalte aufzubrechen. Gelingt das nicht, wird es bald keinen Bäckernachwuchs und auch keine individuellen Bäckereien mehr geben. Das Ausbildungssystem im Gesellen- und auch im Meisterbereich muss grundlegend reformiert, inhaltlich auf den Kopf gestellt werden.


Erst vor zwei Wochen hatten wir einen jungen Bäckermeister aus Baden-Württemberg bei uns zur Weiterbildung, der uns das eben beschriebene Bild in der Ausbildung komplett bestätigt hat. Wir würden Ihnen gern weitere Einblicke in den realen Zustand des deutschen Bäckerhandwerks geben, der ohne Lobbyinteressen des Zentralverbands ganz anders aussieht als das, was Sie vermutlich bislang wahrnehmen konnten. Energiekosten, Arbeitskräftemangel oder steigende Mieten sind sicher auch ehrenwerte und wichtige Themen für Bäckereien, aber die Ursache für die fehlende Widerstandsfähigkeit gegen Krisen im Bäckerhandwerk liegt tiefer, weit tiefer. Sie liegt in der einfachen Frage begründet, ob Bäckerinnen und Bäcker heute noch lernen, aus den drei Zutaten Mehl, Wasser und Salz jeden Tag ein geschmacklich und gesundheitlich gutes Brot zu backen, ohne Zuhilfenahme von Vorprodukten, sondern nur durch handwerkliches Wissen und Können.


Wir sind dem Bäckerhandwerk sehr verbunden, arbeiten ganz unten an der Basis, versorgen rund 1.500 Menschen in unserem dörflichen Stadtteil Hamburgs mit gutem Brot und bringen Bäckern und Laien wieder Brotbacken bei.

Darüber und wie die deutsche Brotkultur aus dem Museum wieder ins echte Leben zurückfinden kann, würden wir uns gern mit Ihnen als aktuellem Brotbotschafter unterhalten.

Herzlichst 

Ihre Christina Weiß 
Bäckermeisterin & Diplomkauffrau 

Ihr Lutz Geißler 
Brotexperte & Diplomgeologe

 

 

Nachtrag vom 6. Juni 2023

Lars Klingbeil hat uns heute geantwortet. Diplomatisch, schwammig, verallgemeinernd. Aber immerhin eine Antwort, nur dass sie leider mit keinem Wort auf das in unserem Brief geschilderte Kernproblem eingeht. Wir bleiben dran am Thema …

Nachtrag vom 13. Juni 2023

Der Passus „Kein Prüfer schneidet …“ ist sicher überspitzt formuliert. Es mag Ausnahmen geben. In der Mehrzahl der uns zugetragenen bzw. selbst erlebten Fälle ist jedoch genau das geschehen – keine sensorische Prüfung. Hintergrund der Formulierung ist letztlich der Fakt, dass Geschmack nicht an erster Stelle steht und die Frage danach, was guten Brotgeschmack (und -geruch) ausmacht, kaum Bedeutung hat.

Den 780 Bäckereischließungen standen 422 Gründungen gegenüber. Macht aber immer noch eine Zahl von 358 Schließungen, also verschwand 2022 netto pro Tag eine Bäckerei.