Meister oder nicht Meister, das ist hier die Frage …

Gedanken zum Meisterzwang im Bäckerhandwerk

Im August-Newsletter 2019 und im November-Newsletter 2021 habe ich ein Thema angesprochen, das mir seit mindestens 2013 unter den Nägeln brennt: Die Ausbildung im Bäckerhandwerk und damit verbunden der Meisterzwang. Nachdem ich mir nun schon so oft gegenüber potentiellen Quereinsteigern und gestandenen Bäckern den Mund in die eine oder andere Richtung fusselig geredet habe, bin ich zur Überzeugung gelangt, meine (sicherlich nicht abgeschlossenen) Gedanken einmal für alle einsehbar zu „Papier“ zu bringen. Ich möchte dadurch zur Diskussion anregen.

Diese Diskussion wird erfahrungsgemäß von vielen Emotionen begleitet, von Besitzstandsängsten bis hin zur Wut über Unmöglichkeiten. Ich bitte alle Diskutierenden dennoch um Sachlichkeit. Mir ist wichtig, neue oder anders formulierte Argumente für oder gegen den Meisterzwang im Bäckerhandwerk kennenzulernen und dadurch auch Ideen für eine ganz anders gedachte Ausbildung zu dokumentieren. Ich freue mich über jeden sachlichen Beitrag, über Erfahrungen aus eigenem Erleben, über Alternativen, die schon in der Praxis gelebt werden, über Umwege und Abkürzungen, also kurzum über alles, was uns bei diesem Thema weiterbringt und den eigenen Horizont weitet. Mit dem nachfolgenden Text polarisiere ich ein Stück weit, weil er meine Erfahrungen widerspiegelt, die andere Menschen in anderem Umfeld, an anderen Schulen, in anderen Betrieben und mit anderen Lehrern sicher anders gemacht haben. Ich beschreibe meine Erfahrungen immer aus der Perspektive der Brotqualität und des Handwerks, für das ich mit meinem Blog und meinen Publikationen stehe. Und noch ein Tipp: Ab heute beginnt meine Podcast-Reihe zum Thema Quereinstieg ins Bäckerhandwerk!


Als kleine Ergänzung für alle, die in diesem Thema nicht drinstecken: In Deutschland gilt für einige Gewerke die sogannte Meisterpflicht, darunter fällt auch das Bäckerhandwerk. Das Inverkehrbringen von selbst hergestellten Backwaren ist demnach nur Personen erlaubt, die einen Meisterbrief im Bäckerhandwerk erworben haben oder Betrieben, die eine solche Person beschäftigen. Für Betriebe mit eigener landwirtschaftlicher Produktion, für gastronomische Einrichtungen, die Backwaren zur Weiterverarbeitung produzieren (z.B. belegte Brötchen), für Reisegewerbe (z.B. mobiles Backen auf einem Markt, aber nicht (!) Backen am festen Standort und Verkauf auf dem Markt) oder für Betriebe bzw. Personen, die nur einen kleinen Sortimentsbereich abdecken, gelten Ausnahmen oder können Ausnahmegenehmigungen beantragt werden, die je nach Prüfer eng begrenzt oder großzügig ausfallen.

Hemmschuh

Der Meisterzwang ist der Hemmschuh des Bäckerhandwerks. Nur wenige, die mit innovativen Ideen, wirklich neuen Konzepten und echtem handwerklichen Brot überzeugen wollen, „überleben“ die Ausbildung fachlich und mental. Es wird zu wenig oder das Falsche geboten. Fachlich falsche oder überalterte Lehrinhalte, Unmengen von Hefe in Broten, die eigentlich gar keine Hefe bräuchten, Sauerteige als verkrustetes Thema ohne jedes Hintergrundwissen, starre Prüfungsanforderungen abseits jeder Realität. Es braucht viel Willen, Scheuklappen und die Hoffnung auf den Meisterbrief, um sich durch diese Dramaturgie schlechten Brotes hindurchzukämpfen und später alles anders zu machen, als das, was zuvor gelehrt wurde.

Der Meisterzwang im Bäckerhandwerk entbehrt in seiner heutigen Form und im Verbund mit den aktuellen Ausbildungsvorgaben jeder Grundlage, wenn es um das Herstellen guter Backwaren geht.

Die Fähigkeiten Lehrlinge auszubilden, einen Betrieb wirtschaftlich zu führen oder Hygieneregeln einzuhalten, sind Teil der Meisterausbildung, richtig. Aber all das ist kein Grund, kein Brot herstellen und verkaufen zu dürfen.

Argumente

Die oft genannten Argumente für den Meisterzwang im Detail:

1. Der Meistertitel sorge für mehr Lebensmittelhygiene.

Meine Sicht: Hygieneregeln muss jeder lebensmittelproduzierende Betrieb einhalten, insbesondere das kochende Gewerbe, das kurioserweise keinem Meisterzwang unterliegt, es aus hygienischer Sicht aber deutlich nötiger hätte als das Bäckerhandwerk. Die Hygiene wird von den zuständigen Behörden überwacht, ganz gleich, ob der Ausführende Meister ist oder nicht. Das Risiko, ein hygienisch nicht einwandfreies Produkt aus einer Bäckerei zu kaufen, ist um ein Vielfaches geringer als in einem Restaurant oder Imbiss, schon allein der Rohstoffe wegen und durch den pasteurisierenden Backprozess.

2. Der Meistertitel sorge für eine fachlich hochwertige Ausbildung.

Meine Sicht: Inhalt der Meisterprüfung ist der Abschluss eines Ausbildereignungsscheins. Dieser Schein berechtigt den Inhaber zum Ausbilden von Lehrlingen im Betrieb, sofern er persönlich geeignet ist und die beruflichen Fertigkeiten mitbringt. Davon abgesehen, dass die momentanen Inhalte und der Ablauf der Ausbildereignungsprüfung in der Praxis niemanden dazu befähigen, einen Lehrling pädagogisch und methodisch angemessen zu führen, kommt noch ein Argument hinzu: Wer unbedingt ausbilden möchte, könnte den Schein auch außerhalb des Meisterzwangs erwerben. Warum sollte es nicht auch Betriebe geben, die gar nicht ausbilden wollen? Wenn Meisterzwang, weshalb dann mit Pflicht zur Ausbildereignungsprüfung?

3. Der Meistertitel sorge für wirtschaftlich erfolgreichere Unternehmen.

Meine Sicht: Die Zahlen aus vom Meisterzwang befreiten Gewerken sprechen zum Teil für dieses Argument. Als Beispiel wird oft das Fliesenlegerhandwerk hergenommen. Wer seinen Betrieb nicht wirtschaftlich führen kann, geht ein. Das ist richtig. Die Frage ist aber, welcher Schaden dadurch für den Kunden entsteht. Arbeitet der Fliesenleger schlecht und geht pleite, dann bleibt der Kunde auf einem relativ hohen Schaden sitzen, weil der Betrieb nicht mehr haftbar gemacht werden kann. Bäckt der Bäcker schlechtes Brot, bleibt der Kunde einfach weg und hat vielleicht einmalig 2-5 Euro Verlust gemacht. Bäckt der Bäcker gutes Brot, hat aber von Betriebsführung keine Ahnung, schadet er damit letztlich nur sich selbst, der Bank und seiner Familie. Wer ernsthaft mit einer Geschäftsgründung liebäugelt, kümmert sich von allein um ausreichende Kenntnisse, belegt Kurse oder hat einen Kompagnon, der dieses Feld übernimmt.

4. Der Meistertitel sorge für gute Brotqualität.

Meine Sicht: Der Meistertitel entscheidet nicht darüber, ob jemand gutes Brot backen kann oder nicht. Die Kunden entscheiden das. Gutes Brot geht weg wie warme Semmeln. Andere Brote nicht. Ein Blick in die Bäckerausbildung zeigt in erschreckender Weise, dass die Ausbildungs- und Prüfungsinhalte nicht zu wirklich gutem Brot führen. Das Ausbildungssystem ist inhaltlich auf einem Stand, der die Masse bedienen kann, sich industrieller Prozesse oder vorgefertigter Rohstoffe bedient, sich auf Ästhetik, Tempo und Volumen, aber kaum auf Geschmack, Wertschätzung und Nachhaltigkeit konzentriert. Der Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette vom Saatgut bis zum fertigen Brot fehlt. Ob ein Azubi wirklich lernt, gutes Brot zu backen, hängt vom jeweiligen Betrieb und von der Berufsschule ab. Die Mehrheit davon hat keine Ambitionen, über Jahrzehnte eingetretene Pfade zu verlassen. Viele (ausdrücklich nicht alle!) Lehrer an Berufsschulen und an den sieben Landesakademien des Bäckerhandwerks lehren Inhalte, die teils überholt sind (z.B. ohne Backmittel ginge es nicht, man könne keine reinen Roggenbrote backen, Einstufensauerteige lockerten Brote nicht ausreichend, viel Hefe helfe viel). Hintergrund der Ausbildungsinhalte sind natürlich die Anforderungen der Prüfungen. Insofern ist den Lehrern kein direkter Vorwurf zu machen. Sie bereiten nur auf das vor, was abgefragt wird. Es ist ein strukturelles Problem und ein Problem derjenigen, die die Prüfungsinhalte festlegen (Handwerkskammern). Es fehlt in der Breite der Blick über den Tellerrand. Wer als 16-Jähriger unbedarft in die Ausbildung stolpert, wird verbildet und kann Brot backen, das heute an jeder Tankstelle zu finden ist, aber kein Brot, das ihn von der Masse abhebt, aber genau das braucht das Bäckerhandwerk, um zu überleben. Nur wer selbst über den Tellerrand schaut, heftige Diskussionen mit den Ausbildern übersteht, die arg konstruierten und von der täglichen Praxis weit entfernten Prüfungen durchhält, wird am Ende gutes Brot backen. In den seltensten Fällen wegen, sondern trotz der Ausbildung an Schulen und Akademien. Ich habe schon so viele Quereinsteiger getroffen, die sich durch diese Ausbildung gequält haben, weil auf Ausbilderseite weder Wille noch Wissen vorhanden war, die Materie wirklich zu durchdringen, anders zu denken und so neue Horizonte zu erschließen. Ohne einen herausragenden Betrieb und viel Eigeninitiative, wird aus einem Bäckerazubi durchaus ein handwerklich versierter, aber inhaltlich verbildeter Bäcker. Und genau das führt zu einer Brotqualität, die heute an jeder Ecke, in fast allen Bäckereien zu finden ist und viele dazu gebracht hat, selbst Brot zu backen. Viele der besten Bäcker, die ich kennengelernt habe, sind Quereinsteiger, die vor dem Meistertitel genauso gut gebacken haben wie danach.

Weltkulturerbe?

Der Meisterzwang steht dem echten Bäckerhandwerk im Weg. Mag sein, dass er vor Jahrzehnten (oder besser vor Jahrhunderten?) noch als eine Art Qualitätskontrolle diente. Heute ist er das größte Hindernis auf dem Weg zu einer wirklich vielfältigen und wirklich „handwerklichen“ Brotkultur in Deutschland. Das Land, das sich stolz als „das Brotland“ nach außen verkauft und sich mit seinem Weltkulturerbe Brot rühmt, hat schon längst den Anschluss verloren. Die handwerklichen Brottrends kommen von überall dort, wo es keinen Meisterzwang gibt, zum Beispiel aus den USA. Dort herrscht reger Austausch zwischen den „professional bakers“, den „interested home bakers“ und den „serious home bakers“. Niemand hat Vorbehalte den anderen gegenüber, jeder kann Brot backen und verkaufen, sofern er Hygienestandards einhält. Das gleiche in Japan, in Skandinavien und andernorts. Nirgends ist es so verkrampft und starr wie in Deutschland (und Frankreich), wenn es ums Bäckerhandwerk geht.

Angst

Der einzige Grund, am Meisterzwang im Bäckerhandwerk festzuhalten, ist mutmaßlich Angst. Die Angst vor dem eigenen Mut. Es geht um den Mut, Neues zuzulassen oder Altes zu den Akten zu legen. Und es geht um die Angst vor Konkurrenz. Es braucht den Meisterzwang nur deshalb noch, um sich der Konkurrenz nicht stellen zu müssen. Oder gibt es andere Gründe, die ich noch nicht kenne? Ein beliebtes, aber schwaches Argument ist oft: „Jetzt habe ich die Meisterausbildung überstanden, da müssen es auch alle anderen tun, die Brot verkaufen wollen.“ – Edler wäre ein anderer Gedanke: „Jetzt habe ich die Meisterausbildung überstanden, da kann ich endlich mal von innen heraus Missstände anprangern und Reformen auf den Weg bringen.“


Dabei geht es gar nicht um Konkurrenz. Es geht um Vielfalt. Erst ohne Meisterzwang im Bäckerhandwerk kann sich eine rege, offene und kreative Brotkultur in Deutschland entwickeln. Das ist mein Traum. Ein Traum, den ich in den USA und auch in Japan schon verwirklicht gesehen habe.

Kein Fliesenleger

Nur damit mich die Bäcker unter meinen Lesern nicht falsch verstehen. Ich möchte die Meisterausbildung nicht schlechtreden. Die hängt auch immer sehr vom Lehrer und der Ausbildungsstätte ab. Ich habe auch schon sehr engagierte und kritische Lehrer kennen- und schätzen gelernt, die in dem ihnen vorgegebenen Rahmen alle Möglichkeiten ausschöpfen. Und sicherlich geht ein Bäcker nach der Meisterausbildung mit deutlich mehr praktischen Fähigkeiten ins Berufsleben als ein Quereinsteiger ohne diese Ausbildung. Aber es muss möglich sein, ohne Meistertitel, Sondergenehmigung und andere Schlupflöcher jede Art von Brot und Gebäck zu verkaufen. Stimmt die Qualität nicht, straft das die Kundschaft ab. Das muss nicht schon prophylaktisch durch eine aus der Zeit gefallene Regelung passieren, die so unheimlich viele gute Bäcker von der Ausübung ihrer Passion abhält. Ein Bäcker ist kein Fliesenleger. Das einzige Risiko, das im Vergleich zwischen einem Bäckermeister und einem Quereinsteiger ohne Meistertitel für den Kunden besteht: Das Brot schmeckt nicht. Und das ist kein Risiko, das einen Meisterzwang notwendig macht.


Der Meisterzwang in der heutigen Form, mit den heutigen Ausbildungsmethoden und Ausbildungsinhalten gehört aus meiner Sicht für das Bäckerhandwerk abgeschafft.

Alternativen

Ein für mich probates Alternativmodell sieht grob skizziert wie folgt aus:

  • Jeder darf unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen zur Verarbeitung von Lebensmitteln Backwaren herstellen und verkaufen (die rechtlichen und baulichen Hürden sind auch ohne Meisterzwang sehr groß).
  • Es wird eine freiwillige Gesellen- und Meisterausbildung angeboten, die sich auf dem Markt behaupten muss, also für den Lehrling einen echten Mehrwert darstellt, weil der Kunde mit dem Gesellen- oder Meistertitel einen Mehrwert für sein Brot sieht, ähnlich wie die aktuelle Ausbildung zum Brotsommeliér an der Bundesakademie in Weinheim. Der Titel macht die Bäckerei und deren Produkte wertiger, stattet den Bäcker mit umfangreichem Wissen aus (wobei man auch hier trefflich über bestimmte Inhalte und Titelnutzungen streiten kann). Warum das nicht auch für die normale Bäckerausbildung umsetzen? Freiwilligkeit vor Zwang. Nur so wird ein maximal hohes Qualitätsniveau in der Ausbildung erreicht. Wer hervorragendes Brot ohne Titel bäckt, wird sich am Markt behaupten können. Wer hervorragendes Brot mit dem Zusatz einer hervorragenden Ausbildung bäckt, hat unter Umständen Wettbewerbsvorteile. Schlechte Bäckereien gibt es momentan zwangsläufig nur mit Meistertitel. Bei freiwilliger Ausbildung zum Meister würde es nicht eine einzige schlechte Bäckerei mit Meistertitel geben, weil sich niemand freiwillig monatelang ausbilden lässt, nur um schlechtes Brot zu backen. Das könnte er dann einfach so tun, unter Abstrafung durch den Kunden.

Es sind Gedanken, Ideen und Wünsche. Wenn sich am Ende der Diskussion ein Bild herauskristallisiert, das aus vielen Blickrichtungen gangbar wäre, ist vielleicht eine Inspiration für diejenigen Menschen geschaffen, die über die Zukunft des Bäckerhandwerks zu entscheiden haben. Ich bin gespannt auf die Debatte und freue mich auf die Moderation der Kommentare.