Backen Hobbybäcker das bessere Brot?

Zum Brotforum 2015

Heute ist ein Tag, an dem ich Blut und Wasser schwitze, auch wenn ich mir meiner Sache recht sicher bin. Ich bin Referent auf dem Brotforum 2015 der Bundesakademie des Deutschen Bäckerhandwerks. Inmitten von Teilnehmern aus der Backmittelindustrie, aus Großbäckereien, Meisterschulen und kleineren Bäckereien werde ich mich etwa 45 Minuten zu einem provokanten Thema äußern:

„Backen Hobbybäcker das bessere Brot? Der Selbstback-Boom als Chance für Bäckereien“

Ich habe mir vielen Gedanken darüber gemacht, sicher nicht abschließend, aber doch ausreichend, um eine gute Diskussionsgrundlage zu bieten. Damit mein Vortrag nicht im Weinheimer Saal versickert, habe ich mich entschlossen, das Manuskript ungekürzt in den Blog zu stellen.

Ich freue mich über eure Diskussionsbeiträge, Ergänzungen und auch über das Teilen des Beitrages, wenn er euch zusagt.

Backen Hobbybäcker das bessere Brot?

Der Selbstback-Boom als Chance für Bäckereien

Glück auf liebe Bäckerinnen und Bäcker, Glück auf sehr geehrte Damen und Herren,

ich beginne meine Worte an Sie mit dem traditionellen Willkommens- und Abschiedsgruß des Erzgebirges, der Bergleute und der Geologen. Zu den Geologen zähle auch ich. Und damit wird klar, wer hier vor Ihnen steht: Einer, der das Bäckerhandwerk nicht auf dem klassischen Bildungsweg gelernt hat. Einer, dem das Bäckerhandwerk bis vor sieben Jahren im Prinzip egal war. Wäre dies heute noch immer so, stünde ich nicht hier vor Ihnen. Mir ist das Bäckerhandwerk, der Beruf Bäcker, ans Herz und auch an den Verstand gewachsen, es treibt mich um, bereitet mir manchmal sogar schlaflose, zumindest aber unruhige Nächte, Kopfschmerzen und auch Freudentränen.

Wie kann das sein, backe ich doch seit eben diesen sieben Jahren all mein Brot selbst? Was kümmert mich der Bäcker von nebenan, wenn ich doch Selbstversorger in Sachen Backwaren bin? Und warum schafft es dieser Bäcker nicht, mich in seinen Laden zu locken und dort mein Brot zu kaufen? Warum überhaupt backen immer mehr Deutsche ihr eigenes Brot und meiden Bäckereien jeder Größe und Ausrichtung? Warum geistern derart viele kritische Beiträge zum Thema Brot durch die Medien? Und wie können Sie als Bäcker diesem medialen und tatsächlichen Selbstback-Boom entgegensteuern? Müssen Sie das überhaupt oder lässt sich der Trend für die eigene Bäckerei nutzen?


Um auf diese Fragen Antworten zu finden, möchte ich Sie einige Minuten an meinem eigenen Weg vom Geologen zum Brotbackenden teilhaben lassen. Mein Weg hin zum Geologen begann schon in Kindertagen. Bis in das erste Schuljahr hinein lebte ich in einem kleinen erzgebirgischen Stadtteil, kaum größer als das Gelände dieser Akademie, inmitten von Wald, Fels und mittelalterlichen Erzbergwerken. Ein Spiel- und Erlebnisparadies für Kinder und heute fast undenkbar. In diesem Stadtteil war ich aber nicht nur von Natur umgeben, sondern von jungen Menschen, die sich eben dort zum Geologiefacharbeiter haben ausbilden lassen. Ich wurde, wenn man so will, in einer geologischen Akademie groß.

Heute ist dort, außer einer Straße, nichts mehr zu sehen. Mit dem Mauerfall kamen die Abrissbirnen. Doch das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist die Prägung, die Erfahrung, mit wissbegierigen jungen Menschen zusammenzuleben, jederzeit eigene Erkenntnisse in Wald und Flur sammeln zu dürfen und seiner Neugier freien Lauf zu lassen.


Diese Zeit hat mich unterbewusst sicher stärker gezeichnet, als ich mir heute zugestehen kann, und war ebenso sicher ein wichtiger Auslöser, mich für ein Studium der Geologie an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg zu entscheiden. Fünf Jahre wollte ich lernen, wie all das, was ich als Kind im Wald oder im Bergwerk beobachtet hatte, entstanden ist, welche Prozesse dazu geführt haben, dass unsere Landschaften heute so aussehen, wie sie aussehen. Und natürlich wollte ich auch wissen, was unter dieser zarten und verletzlichen Haut aus Pflanzen, Tieren und Erde steckt, auf und von der wir alle leben.

Ich war voller Enthusiasmus, mir meine Fragen zu erklären und dieses atemberaubende Wissen über die Dinge, die meist unsichtbar unter unseren Füßen liegen, auch an andere weiterzugeben. Anders formuliert: Ich hatte Blut geleckt!


Fast rund um die Uhr, von 4-5 Stunden Schlaf einmal abgesehen, war ich mit Geowissenschaften beschäftigt. Sei es als Gründer einer montangeologischen Arbeitsgemeinschaft, als Vorsitzender und Gründer eines bundesweiten Vereins, der sich um geowissenschaftliche Wissensvermittlung im Alltag kümmerte, oder als Mentor für andere Studenten. Keine Zeit für Gedanken an Brot und andere Lebensmittel. Der Supermarkt wird’s richten.


Irgendwann war es Zeit für die Diplomarbeit, ein Mammutprojekt über die Entstehung nordkalifornischer Goldlagerstätten. 500 Seiten Papier. 500 Seiten, die mich zum Brotbacken getrieben haben. Vier Wochen Nordkalifornien, vier Wochen im kalten Goldbergwerk, vier Wochen auch aus damaliger Sicht grauenhaftes Brot reichen nicht aus, um auf die Idee zu kommen, einen Teig anzusetzen. Dazu braucht es ein Jahr Arbeit am Computer und zwar nur am Computer.

Der Kopf qualmt, die Sehnsucht nach praktischer Arbeit wird von Tag zu Tag größer. Kommt in diesem verfallenen moralischen Zustand die Idee, einen schlichten Hefeteig zu kneten, daraus Brötchen zu formen und zu backen, ist das Glücksgefühl vermutlich dem eines Bergsteigers vergleichbar, der gerade den Mount Everest bezwungen hat.
 

Brotbacken als mentaler Ausgleich, als Meditation vom Digitalen. 

Der Bäcker um die Ecke hat damals sicher das eindeutig bessere Brötchen gebacken als ich mit 8% Hefe und geschätzt 30 Minuten Teigruhe bis zum Backen.
Ich blieb am Brot. Es wurde gebacken, um den Kopf von Zahlen, Analysen und geologischen Modellen zu leeren, nicht des Geschmacks oder des schlechten Bäckers wegen. Mit jedem Fehler im Gebäck — und glauben Sie mir, es waren Brote und Brötchen die wie ein einziger großer Fehler aussahen und schmeckten — stieg der Ehrgeiz, zu lernen, was da schief gelaufen war. Ich hatte wieder Blut geleckt! Und ich hatte auf einmal zwei Professionen. Das Backen folgte der Geologie, der ich 6 Jahre lang als leitender Geologe in der Bergbaubranche verpflichtet war. Um meine gebackenen Rezepte, meist aus dem Internet, und auch die Fehler zu archivieren und von überall her greifbar zu haben, begann ich, einen Blog, eine Art Rezepttagebuch im Internet zu schreiben, nur für mich und ein paar Freunde.


Je tiefer ich mich in die Thematik einlas und einarbeitete, umso mehr Rückmeldungen bekam ich von anderen Menschen, die ihr Brot selbst backen. Auf einmal entdeckte ich Internetforen voller Menschen, die auf der Suche nach gutem Brot zum Selberbacken gekommen sind und sich austauschten. Was ich nicht fand, war ein tief in die Grundlagen eintauchendes Buch in deutscher Sprache. So nahm ich mir englischsprachige Bücher zur Hand, die mich Herstellungsweisen lehrten, die ich in Hobbybäcker- und auch in für mich damals noch unverständlichen Fachbüchern nicht fand. Lange Teigführung, teils über Tage, Hefeeinsatz von Null bis maximal zwei Prozent, die Arbeit mit Weizensauerteigen und vieles mehr.


Kurz nach Beginn meiner ersten Backversuche spielte ich bereits mit den Zutaten, um eigene Rezepte zu entwerfen, damals eher ein Produkt des Zufalls als gezielte wissensbasierte Entwicklungsarbeit. Mit jedem Fehler kam neues Wissen hinzu und mindestens genauso viele neue Fragen. Dieser Enthusiasmus hat bis heute angehalten. Ich habe einen von selbst initiierten Lernprozess durchlaufen, habe wie in der Geologie gemerkt, wie einfach das Lernen sein kann, wenn es selbst gewollt ist, wenn ein innerer Antrieb da ist, Dingen auf den Grund zu gehen.

Diese Leidenschaft für etwas eigentlich so einfaches wie ein Lebensmittel aus Mehl, Wasser und Salz, hat mich nicht nur dazu gebracht, das von mir nie gefundene deutschsprachige Grundlagenbuch zum heimischen Brotbacken zu schreiben (und inzwischen auch ein zweites Buch). Das Brotbacken hat mich gelehrt, mich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was wir jeden Tag essen, wie es hergestellt wird und welche Auswirkungen das in die eine oder andere Richtung hat.


Inzwischen gebe ich in Deutschland, Österreich und Schweiz Brotbackkurse, berate kleine und mittelständische Bäckereien, entwickele Rezepturen für Bäcker, Gastronomen und Medien. Dass die Seiten meines Blogs, also Rezepte, Tipps, Reportagen aus Bäckereien und anderes mehr, monatlich über eine Million Mal aufgerufen werden, veranschaulicht vermutlich am besten, welchen Stellenwert das Brotbacken zu Hause eingenommen hat.


Falls Sie das noch nicht überzeugt, hier weitere Zahlen: Monatlich besuchen etwa 70.000 Leser meinen Blog. Über 4.000 Facebook-Fans und über 700 Newsletter-Abonnenten. Es gibt auch etliche weitere gut gemachte Brotblogs und Internetforen, die wiederum tausende Leser haben. Mein Brotbackbuch ist in nur anderthalb Jahren mehr als 30.000 Mal verkauft worden. Meine Brotbackkurse sind regelmäßig ausgebucht. Hier sind ganz „normale“ Menschen bereit, 150, 280 oder gar fast 1.000 Euro auszugeben, nur um zu lernen, wie ein gutes Brot gebacken wird. Fernsehen, Rundfunk, Zeitschriften oder Internetmagazine berichten über mich als Hobbybäcker, darunter die FAZ, Tagesspiegel, Stern, Feinschmecker, BEEF! und viele andere. In zwei Tagen werde ich drei Stunden lang im öffentlich-rechtlichen Radio zum Thema Brot und zum Phänomen Hobbybäcker interviewt. Und selbst Landtagsabgeordnete einer Partei, die die Bundeskanzlerin stellt, treffen sich mit mir, um sich über die Zukunft des Bäckerhandwerks auszutauschen.


Ich komme mir manchmal vor, als hätten sich all diese Menschen in der Adresse geirrt, wollten vielleicht doch besser mit einem gelernten deutschen Bäckermeister sprechen als mit mir, der nie eine Berufsschule besucht hat, nie Azubi in einer Bäckerei oder gar Bäckermeister geworden ist. Was läuft da falsch? Läuft überhaupt etwas falsch? Sind Quereinsteiger nicht gerade die, die den nötigen Enthusiasmus mitbringen? Warum backen so viele und stetig mehr Menschen ihr eigenes Brot? Ist das nur ein Trend, der kurz aufflammt und wieder verschwindet? Oder steckt mehr dahinter?


Bevor meine Brotbackkurse beginnen, frage ich meine Teilnehmer, warum sie freiwillig zu solch einem finanziell, körperlich und geistig anstrengenden Unterfangen kommen. Was treibt euch an, selbst Brot zu backen? Nur ein kleiner Bruchteil möchte, so wie ich damals, mit praktischer Arbeit den Kopf frei bekommen. Das betrifft im Übrigen fast ausschließlich Informatiker… Dass es nun das Brotbacken und nicht die Briefmarkensammlung geworden ist, hat eher etwas damit zu tun, dass das Ergebnis nicht im Regal verstaubt, sondern gegessen werden kann. Weit über 90% meiner Teilnehmer backen Brot, weil sie sich in einer grundsätzlichen Notlage befinden. Einige der von den Teilnehmern genannten Gründe:

  • Wir haben keinen Bäcker mehr in unserer Gegend.
  • Es gibt nur noch Aufbacktheken in Discountern und Supermärkten.
  • Es gibt nur noch ein oder zwei Großbäckereien mit ungenießbarem Brot.
  • Ich vertrage das gekaufte Brot nicht mehr (Darmprobleme, Allergien, …).
  • Mein Bäcker bäckt aus der Tüte.
  • Seitdem ich das Backen ausprobiert habe, schmeckt mir das Bäckerbrot nicht mehr.

Es ist vielen Menschen in Deutschland nicht mehr möglich, ein aus ihrer Sicht gutes Brot zu kaufen. Doch was ist „gut“? Dieses kleine Wörtchen bezieht sich bei Vielen vordergründig auf den Geschmack. Der Geschmack sollte herausstechen, sollte das Gebäck charakteristisch machen wie einen guten Wein oder einen guten Käse. Die Masse der heute verkauften Brötchen schmeckt und riecht im besten Fall nach nichts, neutral. Der Geschmack von Broten kommt, wenn überhaupt, durch zugesetzte Körner und Saaten, durch Malze, Trockenfrüchte oder Nüsse zum Tragen, nicht durch den Teig an sich. Wenn Sie als Brotsuchender also nicht in einer größeren Stadt wohnen, in der die Wahrscheinlichkeit höher ist, noch einzelne Bäcker zu finden, die ihr Handwerk in erster Linie am Geschmack ausrichten, haben Sie es extrem schwer, ein geschmacklich gutes Brot zu finden. Zugegeben: Geschmack ist äußerst subjektiv. Aber zwischen unangenehm-fad, neutral und aromatisch liegen derartig große Welten, dass selbst meine damals einjährige Tochter bei einem kleinen Test schon mit 100%iger Treffsicherheit das aromatischste Brot griff.


Halten wir fest: Der selbst backende Deutsche ist in erster Linie auf der Suche nach Geschmack. Einem Geschmack vielleicht, den er noch aus Kindheitstagen zu kennen glaubt. Er ist nicht auf der Suche nach dem voluminösesten Brötchen, nicht auf der Suche nach dem billigsten Brot.

Das zweite Problem, das den Laien zum Selbstbacken treibt, ist das große Universum der Unverträglichkeiten. Und da spreche ich noch nicht einmal von der trendigen und in wenigen Fällen auch echten Glutenunverträglichkeit oder sogar Glutenallergie. Es geht um den Magen-Darm-Trakt, die Haut, die Atemwege und anderes mehr. Nicht alles lässt sich allein mit Brot erklären, aber vieles. Ein unfassbar großer Teil meiner Kursteilnehmer und Blogleser berichtet, dass ihre Beschwerden mit dem ersten eigenen Brot schlagartig beendet waren. Dass derartige Unverträglichkeiten von Jahr zu Jahr zunehmen, ist unbestritten.


Als überzeugter Naturwissenschaftler habe ich solche Äußerungen lange Zeit skeptisch zur Kenntnis genommen. Immerhin sind alle in Mehlen und Backwaren eingesetzten Hilfs- und Zusatzstoffe wissenschaftlich geprüft und als gesundheitlich unbedenklich zugelassen worden. Nur haben solche Zulassungsstudien ein ganz zentrales Problem: Sie können weder die Langzeitwirkung noch die mögliche Wechselwirkung verschiedener zugesetzter Stoffe und ihrer Abbauprodukte im menschlichen Organismus untersuchen, zumal Backwaren nicht die einzigen Lebensmittel mit derartigen Zusatzstoffen sind.

Erklärtes Ziel der meisten Hobbybäcker ist deshalb: Brotbacken mit naturbelassenen Zutaten, letztlich also nur Mehl, Salz, Wasser und ein Triebmittel – keine technischen Enzyme, keine extrahierten Emulgatoren, keine synthetischen Säuerungsmittel etc. pp. Eine kleinere Gruppe beschränkt sich dabei ganz bewusst auf alte oder seltene Getreidesorten, weil auch in den Hochleistungsgetreiden Potential für Unverträglichkeiten zu schlummern scheint.


Zugegeben: Ich male wieder Schwarz-Weiß. Eine nicht minder große Gruppe von Hobbybäckern bäckt mit all den Zutaten, Hilfs- und Zusatzstoffen, die auch in der heutigen Bäckerei Standard sind. Nicht wenige Hobbybäckerversandhäuser leben davon, Verbraucher mit der Landbrot- oder Pain Rustique-Backmischung, mit modernen Brötchenbackmitteln oder mit Fertigteigen für das schnelle und einfache Brotbacken zu begeistern. Ein Hobbybackerlebnis, das spätestens dann ins Wanken gerät, wenn der Laienbäcker merkt, dass er für das ausgegebene Geld sicher die doppelte Menge Brot oder Brötchen in vergleichbarer Qualität auch bei Aldi, Lidl & Co. hätte kaufen können.

Der Hobbybäckermarkt ist riesig und ein gespaltenes Wesen. Die einen machen nichts anderes als der klassische deutsche Bäckerbetrieb heute auch (Achtung: ich übertreibe!): Tüte auf und Wasser drauf. Die anderen verzichten darauf und machen sich mit viel Hintergrundwissen nur die Grundzutaten zu Nutze. Und natürlich gibt es auch die Zwischentöne. Allen gemeinsam ist aber, dass sie der Meinung sind, ihr Brot schmecke um Welten besser als das, was die Bäcker ihrer Gegend zum Kauf anbieten. Hobbybäcker backen aus ihrer Sicht das bessere Brot. Und diese Erkenntnis ist beachtlich.


Selbst in meinem kleinen erzgebirgischen Dorf, in dem ich wohne, das weit ab von allen Trends vor sich hin lebt, bäckt eine ungeahnte Anzahl von Menschen ihr eigenes Brot, weil weder die Dorfbäcker noch die Großbäcker mit ihren Filialen ein Brot zu backen in der Lage sind, das sie geschmacklich überzeugt. Ohne dass ich die folgende These mit Zahlen untermauern könnte, es ist vielmehr ein Eindruck, der bei meinen Reisen durch Deutschland und über die jährlich zehntausenden Rückmeldungen im Blog entstanden ist: Der Deutsche sehnt sich nach gutem, ehrlichem Brot. Nach Brot, von dem er weiß, wer es wo wie hergestellt hat. Er sehnt sich nach Brot mit Geschmack.

Diese Sehnsucht und Suche beschränkt sich nicht etwa auf eine kleine gesellschaftliche Gruppe, die ausreichend Zeit und Geld hat, einem solchen Hobby zu frönen. Da Brot nach wie vor ein Grundnahrungsmittel ist, sind alle Alters- und Berufsgruppen betroffen. In meine Kurse kommen Jugendliche, Erwachsene im besten Alter und Rentner ebenso wie Studenten, Arbeiter, Angestellte, Selbstständige oder Manager. Jeder von diesen Menschen, der einmal ein geschmacklich gutes Brot gebacken und gegessen hat, ist infiziert, kann kein Brot mehr genießen, das im Discounter, beim Industriebäcker, Großbäcker, aber oft auch in kleineren Betrieben hergestellt wird.

Einmal Hobbybäcker, immer Hobbybäcker? 

Ein professioneller Bäcker wird es schwer haben, einen Hobbybäcker von seinen Broten zu überzeugen, ihn als Kunden zu gewinnen. Und dennoch können Sie als Bäcker den Selbstback-Boom nutzen, um langfristig Kunden zu binden und neue Kunden für Ihre Backwaren zu begeistern.

Ich werde ein Ideal beschreiben, das sich aus meinen nunmehr sieben Jahren Erfahrung als Hobbybäcker und Kursleiter herauskristallisiert hat. Sieben Jahre, in denen ich zunehmend zwischen den Stühlen Ihrer Kunden und Ihnen selbst als gelernte Bäckermeister saß und noch immer sitze. Eine teils undankbare Situation, in der ich es weder der einen noch der anderen Seite immer Recht machen kann. Andererseits eine Situation, aus der heraus sich hervorragend zwischen Profi und Laie vermitteln lässt.

Was ist also das philosophische Idealbild einer modernen Bäckerei aus meiner Sicht?

Schwerpunkt Geschmack

Der Fokus sollte nicht auf Volumen, vollendeter Ästhetik und minimalem Materialeinsatz liegen, sondern auf Geschmack. Völlig egal, ob das Brot konventionell, biologisch, mit oder ohne Hilfs- und Zusatzstoffe hergestellt wurde. Wenn es einen eigenen, typischen und einzigartigen Charakter hat, ist mittelfristig eine breite Kundschaft gesichert. Qualität setzt sich immer durch. Die Arbeit mit Vor- und Sauerteigen, langer Teigreifung und speziellen Teigverarbeitungs- und  bearbeitungsmethoden ist der Garant dafür. Absetzen von der Masse war schon immer des Unternehmers Glück.
 


Dazu eine kurze Anekdote, die mir kürzlich ein Landwirt erzählte. Nennen wir ihn Hans. Hans liefert schon etliche Jahre Getreide an den befreundeten Bäcker, nennen wir ihn Fritz, der daraus Vollkornmehl und bei einem befreundeten Müller Auszugsmehl herstellt. Aus diesen Mehlen bäckt Hans ganz ohne Hilfs- und Zusatzstoffe Brot-, Klein- und Feingebäck. Tagein, tagaus kauft Hans bei Fritz seine hellen Brötchen und versucht sie auch seiner Verwandten, nennen wir sie Hanna, schmackhaft zu machen. Ihr Einwand: „Die sind mir zu klein und zu fest.“ Hanna war die Brötchen vom Großbäcker und Discounter gewöhnt. Monate später ist Hans bei Hanna zu Besuch und bemerkt, dass auf dem Tisch Fritz‘ Brötchen liegen. „Was ist los, Hanna. Ich dachte, Fritz‘ Brötchen sind nichts für dich?“ „Doch, natürlich, diese Dinger sind die einzigen, die noch schmecken!“

Ganzheitliches Backen

Ganzheitlichkeit hat nichts mit Esoterik zu tun. Dafür bin ich zu sehr Naturwissenschaftler. Ganzheitliches Backen heißt: Der Bäcker steht in der Verantwortung, über seine Backstube hinaus zu schauen. Er sollte seine Rohstoffe und ihre Geschichte kennen — sein Mehl und damit den Müller, sein Getreide und damit die Bauern, im besten Fall auch sein Saatgut und damit den Züchter. Tut er dies nicht, bäckt er ein weitgehend anonymes Brot, zu dem er und seine Mitarbeiter keinen Bezug haben.


Wie oft höre ich von Bäckern, aus Erfakreisen und Innungsgesprächen, dass die Mitarbeiter unmotiviert seien, dass sich eine allgemeine Müdigkeit über die Betriebe legt, sich Lethargie breit macht. Das ist kein bäckerspezifisches Phänomen, sondern ein Phänomen der gesamten Gesellschaft, das sich mit drei schlichten Worten zusammenfassen lässt: Höher, schneller, weiter. Wir haben vielfach die Wurzeln zu dem gekappt, was uns antreibt. Wachstum, auch im Bäckereiwesen, war in den letzten Jahrzehnten von Quantität bestimmt, Betriebsvergrößerungen, Erweiterung der Produktionskapazitäten und Vertriebswege — zu Lasten der Qualität. (Ich empfehle Ihnen hierfür den deutschen Kinofilm „Das Brot des Bäckers“ von 1976, Regie Erwin Keusch, von dem die Financial Times damals meinte: „Was Moby Dick für den Walfang ist, ist dieser Film fürs Brotbacken.“) Ein Bäckereibetrieb kann aber auch zu Gunsten der Qualität wachsen, ohne dass sich seine physische Größe ändern muss. Dazu gehören Gedanken über die Wertschöpfungskette vom Acker bis zum Kunden, Fragen zur Regionalität und nachhaltigen Wirtschaftsweise, das Erlernen neuer handwerklicher Fähigkeiten, beispielsweise um ganz ohne Hilfs- und Zusatzstoffe saisonale oder sortentypische Schwankungen der Rohstoffqualität ausgleichen zu können. Wenn Mitarbeiter durch inhaltlich-fachliches Wachstum des Unternehmens einen ganz konkreten, persönlichen Bezug zum Brot bekommen, wenn sie einen Sinn darin sehen, ein Brot mit Geschichte zu backen, wenn sie von ihrem Brot überzeugt sind, dafür leben und einstehen, eine Leidenschaft entwickeln, dafür brennen, so wie die vielen Hobbybäcker Blut geleckt haben, dann ist der Betrieb auch aus wirtschaftlicher und aus Kundensicht nachhaltiger aufgestellt als jene Betriebe, die Brot als Ware produzieren, aber nicht Brot backen.

Transparenz gegenüber Mitarbeitern und Kunden

Transparenz heißt: Der Kunde muss wissen dürfen, wie sein Brot hergestellt wird, welche Zutaten, Hilfs- und Zusatzstoffe enthalten sind, auch wenn sie nicht der gesetzlichen Deklarationspflicht unterliegen. Der Kunde muss auf fachliche Fragen von jedem Mitarbeiter eine sach- und fachkundige Antwort bekommen können. Er muss das berechtigte Gefühl haben, dass er nicht nur ein Brot kauft, sondern ein wertvolles Lebensmittel, in das vom Saatgut bis zum Backen Leidenschaft, Muße und Enthusiasmus des Bäckers geflossen sind. Dazu braucht es Mitarbeiter, die Teil der Bäckerei und ihrer Philosophie sind. Sie sollten sich aus sich selbst heraus verantwortlich fühlen und ein sinnliches und fachliches Verständnis über die Arbeit ihrer Kollegen entwickeln. 


Der Teigmacher muss wissen, mit welchen Problemen der Ofenführer zu kämpfen hat und andersherum genauso. Die Verkäufer müssen den Herstellungsprozess jeder einzelnen Brotsorte überblicken. Sie sind mindestens genauso wichtig für den Erfolg eines guten Brotes wie der Bäcker. Sie sind das Bindeglied zwischen Backstube und der Welt da draußen, die für Ihre Brote möglichst gutes Geld ausgeben soll. Jeder Verkäufer sollte regelmäßig in der Backstube mitarbeiten. Nur so kann er ein Brot authentisch und fachkundig verkaufen.


Ehrlichkeit dem Kunden gegenüber heißt nicht, ihm etwas zu verschleiern, sondern offen mit Problemen und Fragen in der Produktion umzugehen. Hier sind wieder die Verkäufer gefragt. Ist beispielsweise der Einsatz von technischen Enzymen aus Bäckersicht unabdingbar, sollte der Kunde eingebunden werden. Toleriert er den Einsatz von Enzymen aus in der Regel gentechnisch veränderten Pilzkulturen der Frischhaltung und Rösche zuliebe oder verzichtet er gern darauf, wenn er um die Umstände ihrer Herstellung wüsste? Erst wenn der Kunde weiß, was er kauft, kann er sich bewusst dafür oder dagegen entscheiden. Bäcker, die transparent und kommunikativ arbeiten, werden in der Kundengunst letztlich gewinnen.


Ein Ideal zu erreichen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, aber sich einem Ideal anzunähern, eine machbare Aufgabe. Sehen Sie in Hobbybäckern eine ernste Gefahr für Ihr Geschäft? Glauben Sie, dass ich mit meinem Blog und meinen Kursen Menschen von Ihrer Brottheke locke und zum Selbstbacken animiere? Weit gefehlt. Hobbybäcker sind Ihre besten Kunden. Denn es sind aufgeklärte, mündige, wissende und leidenschaftliche Kunden, die Ihre Brotqualität viel kritischer, konstruktiver beurteilen können und gleichzeitig bereit sind, einen deutlich höheren Preis für gutes Brot zu zahlen als der klassische Supermarkteinkäufer.


Das Beste, was Sie für die Kundenbindung tun können: Erziehen Sie Ihre Kunden zu Hobbybäckern. Veranstalten Sie Backkurse, geben Sie ab und zu verständliche Rezepte an die Kundschaft weiter, bieten Sie praktische Führungen durch die Bäckerei an, und wenn es einmal im Jahr ist.

Jeder Brotkäufer, der einmal versucht hat, selbst ein Brot zu backen, und dann vielleicht noch unter Anleitung des Bäckermeisters, wird den Aufwand und den Wert des Brotbackens mit ganz anderen Augen betrachten und bereit sein, für ein gutes Brot auch einen guten Preis zu zahlen.


Spielen Sie mit offenen Karten. Wenn Sie Backmittel einsetzen, müssen Sie in der Lage sein, Ihren Kunden zu erklären, weshalb Sie genau diese Backmittel einsetzen, wie sie zusammengesetzt sind und was passieren würde, wenn nicht mehr damit gebacken würde.

Wenn der Kunde das Gefühl bekommt, der Bäcker und seine Mitarbeiter binden ihn ernsthaft und nicht nur aus Marketinggründen ein, lassen ihn teilhaben, dann wird er nicht nur ein treuer Kunde bleiben, sondern weitere Kundschaft mitbringen.

All das interessiert den Kunden gar nicht? 

Dann wird es Zeit, in Ihren Kunden Interesse zu wecken, Leidenschaft fürs Brot zu entfachen. Vor acht Jahren hätten Sie mich Scheibenbrot aus dem Supermarkt und Brötchen aus dem (Auf-) Backshop essen sehen können. Erst das Selbstbacken hat mir klar gemacht, welch hoher Kunst es bedarf, ein vernünftiges Brot zu backen. Ich und sicher auch meine zehntausenden Blogleser und Buchkäufer ziehen ihren Hut vor jedem gescheiten Bäcker und unterstützen ihn nach Kräften durch Empfehlungen und eigene Käufe. Warum sollte dieser Sprung in der eigenen Ernährungsbiografie nicht auch bei Ihren Kunden möglich sein? Grundvoraussetzung dafür ist Ihr Engagement, Ihre ehrliche Leidenschaft für gutes Brot.


Momentan wächst eine ganz neue Generation von jungen Menschen heran. Kritisch, offen, konstruktiv, politisch und sensibel in Sachen Ernährung. Im besten Sinne informierte, mündige Verbraucher, oder, wie ich finde, passender, sich bewusst ernährende Menschen. Ihr kritischer Umgang mit Lebensmitteln, ihre Fragen nach dem „Warum?“ in vielen Bereichen der Lebensmittelherstellung strahlen nicht nur auf Gleichaltrige ab, sondern auch auf die Elterngeneration. Das Selbstmachen ist in, weil nur dann ganz sicher zu sein scheint, was drin steckt.


Als Bäcker haben Sie über kurz oder lang die Wahl: Schwimmen Sie mit der Masse Ihrer Kollegen, der Discounter, Backshops und Industriebäcker und setzen auf Quantität und niedrige Preise? Oder setzen Sie besser auf Qualität in jeder Hinsicht und backen wertvolles Brot? Dieser zweite Weg ist der persönlich härtere, mental anstrengendere Weg, aber nach meiner Prognose der einzige Weg, das Bäckerhandwerk am Leben zu erhalten.

Wenn ich keine Brotbackkurse für Ihre potentiellen Bäckerkunden mehr geben muss, dann haben Sie sich für die richtige Zukunft des deutschen Brotes entschieden!


Vielen Dank für Ihre Geduld mit mir und meinen Worten!