Schimpansen auf dem Einkornacker
Das Brotfest 2024 in Italien
Was haben Österreich und Italien gemeinsam? Wahrscheinlich vieles. Auf jeden Fall aber einen Ort, der abgeschieden in Endlage mitten im Grünen liegt, an dem es fast immer nach Brot und Rauch riecht und an dem das Brotbacken anders gedacht wird, als es sich über die vergangenen Jahrzehnte im klassischen Bäckerhandwerk entwickelt hat.
Im vergangenen Jahr reiste ich gemeinsam mit Christina Weiß durch die Region Marken in Mittelitalien, organisiert und geführt von Sabine Rühl-Thomasberger. Wir besuchten viele Handwerksbäcker und merkten, dass sich auch in Italien eine Szene entwickelt, die anders über Brot denkt und Brot unter anderen Qualitätskriterien bäckt, als wir das über Jahrzehnte als Konsumenten vermittelt und als Bäcker gelehrt bekommen haben. Genauer gesagt, es sind in vielen Fällen „Bäckerinnen“: eine erstaunlich hohe Zahl an Frauen hat sich in der Szene dem Brot verschrieben und denkt es vom Acker bis zum Verbraucher. Viele von ihnen bauen ihr eigenes Getreide an; nicht irgendwelches Getreide, sondern alte, regionale Sorten, oft im experimentellem Landbau. Das Getreide wird häufig selbst vermahlen, das Brot mit Sauerteig hergestellt und im Holzofen gebacken. Die ganze Wertschöpfungskette, manchmal sogar inklusive der Züchtung, liegt in einer Hand oder in den vielen Händen einer Kooperative.
Il gentil verde
Besonders beeindruckt hatte uns auf unserer Reise die ausschließlich von Frauen betriebene Bäckerei und Landwirtschaft von „Il gentil verde“ bei Acqualagna. Giuditta, Agnese und Eva haben dort ein Kleinod aufgebaut, auf dem mit eigenem Einkorn, Emmer und Populationsweizen Holzofenbrote gebacken werden. Wir haben sie zum Rauriser Brotfest 2023 eingeladen.
Sabine, die unter anderem in Italien stark verwurzelt ist, machte den Vorschlag, das nächste Brotfest doch bei „Il gentil verde“ auszurichten. Die drei Frauen brauchte sie nicht lange zu überzeugen. Kulturfestivals hatten sie schon auf ihrem Gelände in der sanften, hügeligen Landschaft organisiert. Warum dann nicht auch ein Brotfest?
Ein vielfältiges Brotfest
Vom 18.-20. Mai 2024, über Pfingsten, war es so weit. Die Hürden lagen für die drei Bäckerinnen höher als für uns damals in Rauris. Drei Frauen mitten in einer von Männern dominierten dörflichen Gegend Italiens, das ist nicht einfach. Brot ist gesellschaftlich ein Thema in Italien, aber das Brotbacken kaum, jedenfalls nicht in der Breite wie in Deutschland. Unterstützung gab es deshalb nur selten, weder von offizieller noch von gesellschaftlicher Seite oder Unternehmen des italienischen Bäckerhandwerks. Giuditta, Agnese und Eva haben sich gemeinsam mit ihrem Netzwerk und mit kräftiger Unterstützung von Sabine durchgebissen und ein vielfältiges Brotfest auf die Beine gestellt – an einem Ort, der abgelegener nicht sein könnte.
„Il gentil verde“ ist nur zu Fuß oder mit dem Auto erreichbar. Wer holperige und serpentinenreiche Straßen vermeiden möchte, sollte die erste Variante wählen und mindestens einen Tagesmarsch von Urbino, der nächstgrößeren Stadt, einplanen. Der Weg führt vorbei an vielen Getreidefeldern an steilen Hängen. Irgendwann erscheint eine Abfolge mehrerer Spitzdächer. Sie entpuppen sich nach der Ankunft als Bäckerei. Der Blick aus der Bäckerei führt über sattgrüne Hügel und Täler, immer aber über im Wind wogende Getreidefelder, die der Schatz von „Il gentil verde“ sind. Man kann bei diesem Anblick nur erahnen, welche Kraft und Vision die drei Bäckerinnen aufgewendet haben müssen, um ein solches Projekt mitten im Nichts aufzubauen.
Hin zu einer Wertschätzungskette
Über Pfingsten lernten italienische und internationale Gäste dieses Kleinod und Vorzeigebeispiel kennen. Neben vielen Diskussionsrunden über die Rolle des Brotes in der Gesellschaft, in der Gastronomie und in der menschlichen Kultur ging es auch um die Frage, welchen gesundheitlichen und ideellen Wert Brot heute hat und haben sollte und wie die Wertschöpfungskette wieder zu einer Wertschätzungskette werden kann. Geschätzt rund 150 Menschen aus der Profi- und Hobbybäckerszene, aus Kunst und Wissenschaft, aus Gastronomie und Hotellerie waren vor Ort, tauschten sich aus und diskutierten über eine neue Idee von Brot. Neben Italien waren Länder wie Deutschland, Polen, Niederlande, Schweiz, Österreich vertreten.
Durchmischung schafft Sicherheit
Besonders spannend waren die Feldbegehungen mit Genetikern. Sie erklärten die Abstammung der heutigen Getreide, führten in evolutionäre Prozesse ein und machten deutlich, dass die Zukunft der Getreide auch in der Vergangenheit liegt. Ganz entschieden sprachen sie sich für den Anbau von Populationssorten aus, von Mischungen verschiedener Sorten auf einem Feld und die Abnahme von Saatgut aus der eigenen Ernte. Das schafft Resilienz, Unabhängigkeit und vor allem Sicherheit vor Trockenheit und Hitze, denn jeder Landwirt oder Bäcker hätte dann lokal angepasstes Getreide und wäre vor massiven Ernteausfällen geschützt.
… und die Schimpansen?
Eine Debatte entspann sich auf dem Feld um die Frage, ob Emmer und Einkorn evolutionär miteinander verbandelt sind. Prof. Salvatore Ceccarelli sprach aus, dass Menschen und Schimpansen genetisch weit mehr Gemeinsamkeiten hätten als Einkorn und Emmer. Zwischen den erstgenannten gäbe es einen Unterschied von zwei Chromosomen, zwischen Einkorn und Emmer einen Unterschied von 14. Unabhängig von diesen wissenschaftlichen Feinheiten war aber Konsens, dass Einkorn und Emmer ernährungsphysiologisch und mit Blick auf den Klimawandel wichtige Arten sein können, um Ernährungssicherheit und Ernährungsqualität zu gewährleisten.
Denkanstöße und neue Stationen
Prof. Ceccarelli zog einen Vergleich zur Finanzwirtschaft: „Immer wieder wird uns empfohlen, unser Aktienportfolio für die Altersvorsorge möglichst breit aufzustellen, um das Risiko zu streuen. Aber in der Landwirtschaft setzen wir seit Jahrzehnten nur auf eine Sorte, auf Monokulturen statt auf Vielfalt.“ Die Risiken sind vorprogrammiert. Jeder einzelne Halm auf einem Feld sei heute genetisch identisch mit seinem Nachbarn und allen anderen Halmen auf dem Acker. Deshalb seien sie anfälliger für Krankheiten und Schädlinge. Mit Populationssorten sei die genetische Vielfalt größer und die Ernte resilienter gegen äußere Einflüsse.
Es wäre unmöglich, alle Themen und Diskussionen an dieser Stelle zusammenzufassen. Wie schon in Rauris im letzten Jahr wird das Brotfest in Italien allen Beteiligten in nachhaltiger Erinnerung bleiben. Denkanstöße, neue Kontakte und auch neue Stationen für das Brotfest sind Resultate von drei intensiven und vom Wetter wohlwollend begleiteten Tagen in einer paradiesischen Landschaft.
Danksagung
„Il gentil verde“ ist immer einen Besuch wert. Wer dieses herausragende Projekt unterstützen möchte, kann spenden, seinen Urlaub dort verbringen, mitarbeiten, die eigene Hochzeit oder Feier dort oben ausrichten und vieles mehr. Ich möchte mich ganz herzlich bei Sabine bedanken, die uns wie immer so familiär und unterstützend aufgenommen hat. Ohne dich, Sabine, wären wir nie in diese bezaubernde Region gelangt und hätten nie all die inspirierenden Bäckerinnen und Bäcker kennengelernt! Und ohne dich hätte es dieses Brotfest nicht gegeben. Es sind oft die Unsichtbaren, die den Sichtbaren Licht verschaffen.
Ausblick: Brotfest 2025
Das nächste Brotfest wird vom 27.–28. September 2025 in Rechtmehring bei München stattfinden. Gastgeberin wird Müllerin Monika Drax von der Drax-Mühle sein. Ich freue mich darauf und lade an dieser Stelle schon alle Bäckerinnen und Bäcker aus dem Hobby- wie Profibereich, alle Brotenthusiasten und alle Getreidebegeisterten ein, Brot aus einer anderen Perspektive kennenzulernen. Mehr Infos gibt es dann Anfang 2025. Wir sehen uns zum nächsten Brotfest!